SHANTEL EastWest EP 2015
Der „Lost Generation“ Gesicht und Stimme geben.
Alle reden ÜBER Griechenland – Parteien, Medien, Stammtische! Doch reden wir
genauso intensiv MIT den Menschen in Griechenland oder hören wir uns an, was SIE
zu sagen haben? „DIE Griechen“ kommt schnell über die Lippen – gerne mit
Verurteilungen oder guten Ratschlägen in einem Atemzug. Doch werden damit die
Verantwortlichen für Misswirtschaft, Nepotismus und Klientelpolitik klar benannt oder
nur ein ganzes Volk in Kollektivschuld genommen? Die alle Menschen und Werte
bedrohende Finanzkrise hat besonders die Jugend betroffen. Doch die um ihre
Zukunft betrogene Jugend Südeuropas kommt in den Medien, wenn überhaupt, dann
nur als statistischer Wert (Jugendarbeitslosigkeit) vor. Sie hat keine Stimme, kein
Gesicht und kaum Gestaltungsmöglichkeiten. Das neue Shantel-Video zu EastWest –
Dysi ki Anatoli (EastWest – With a Little Spice of Orient) zeigt in intensiven
Einzelportraits normale, junge Leute aus Athen (ein paar ältere sind auch dabei),
manche von ihnen sind Musiker und hatten Anteil an den Aufnahmen. Shantel möchte
der „verlorenen Generation“ ein Gesicht und eine Stimme geben.
Shantel & Areti Ketime // EastWest – Dysi Ki Anatoli from guilty76 on Vimeo.
Zu Griechenland hat Shantel eine besondere Beziehung: Dank seines griechischen
Großvaters hat er schon in frühester Jugend das Land aus einer ganz anderen
Perspektive erlebt und eine starke Bindung aufgebaut. Seit Jahren tourt er mit seinem
Bucovina Club Orkestar oder alleine als DJ regelmäßig durch Griechenland. Das
Reisen intensivierte sich: Seit mehr als 2 Jahren pendelt er zwischen seiner
Homebase in Frankfurt und seiner neuen Wahlheimat Athen hin- und her, um sich mit
Gleichgesinnten auszutauschen, Musik zu machen und zu experimentieren. In Athen
entdeckt er eine neue Generation von Musikern und Produzenten, die sich vom alten
System schon längst verabschiedet und für die Vetternwirtschaft der alten
„Großkünstler“ nur noch Spott und Verachtung übrig haben. Die Stadt ist im
Gegensatz zu vielen In-Metropolen Europas noch nicht gentrifiziert. Hier gibt es noch
kontrastreiche Freiräume, die seit jüngster Zeit kreativ genutzt werden. Die Jugend der
Stadt ist sich selbst überlassen und lebt am Existenzminimum. Einige sind dennoch
vom Geist des DIY beseelt: Mach’s selbst! Der Mainstream ist Shantel egal, das hat er
schon Anfang des Jahrtausends bewiesen, als er wegen seiner Begeisterung für
„rumänischen Karpaten-Punk“ verlacht wurde. Es hat ihn nicht geschert – im
Gegenteil, es hat ihn befeuert und die Erfolge in der ganzen Welt haben ihm Recht
gegeben. Geradeaus den vermeintlich „korrekten“ Weg zu gehen interessiert ihn nicht,
denn da findet man nur den sich in Endlosschleife wiederholenden Mainstream.
Shantel ist auf der Suche nach Charakteren, Typen, Orten, an denen wirklich etwas
passiert. Der Popkultur-Forscher Shantel verlässt sich dabei auf seine langjährige
Erfahrung und Intuition. Was er erlebt und in sich aufsaugt, sind erst einmal nur
flüchtige Phänomene, Momentaufnahmen, Synergien, die sich in seinen
Kompositionen zu einem klingenden Manifest verdichten, das den aktuellen Zeitgeist
abbildet.
In Athen ergeben sich ganz natürlich neue und weiter zu verfolgende Schnittstellen.
Wie im Frankfurter Bucovina-Club-Sound verbinden sich hier analoge und digitale,
traditionelle und avantgardistische, akustische und elektronische Klänge. Junge
Künstler wie Imam Baildi suchen den Kontakt, fragen nach Shantels
Produzentenfähigkeiten, man vereinbart eine Kooperation. Aber nicht nur das
subkulturelle Milieu Athens fasziniert Shantel schon lange, sondern er ist auf der
Suche nach Areti Ketime und ihrer mythischen, ätherischen Stimme. Areti eröffnete
als Teenager die Olympischen Spiele von Athen, spielt und singt im TV vor Milliarden
von Zuschauern. In Athen begegnen sich zwei Künstler auf Augenhöhe und vereinigen
ihre Ambitionen. Shantel teilt mit Areti eine gemeinsame Liebe zur Urmutter des
Rembetiko: Der Smyrna-Sound der untergegangenen Metropolen Kleinasiens bildet
eine natürliche Brücke zwischen Ost und West, Orient und Okzident. Rembetiko,
dieser verfemte Blues der griechischen Underdogs und Bonvivants, inspirierte Shantel
schon immer. Obwohl der Rembetiko von Regierungen verboten, seine Interpreten ins
Gefängnis geworfen wurden, hat er gerade auch als Sound des Protestes gegen die
griechische Militärdiktatur überlebt! Im Athener Studio versammelte Shantel neben
Areti Ketime 25 weitere Musiker, die alle wichtigen griechischen traditionellen
Instrumente spielen. EastWest – Dysi ki Anatoli geht mit seinem byzantinischorientalischen
Sound an die Wurzeln griechischer Musik und bleibt dabei immer
tanzbar. Mit flirrender Leichtigkeit gelingt es Shantel, 100 Jahre nach dem Beginn der
„Kleinasiatischen Katastrophe“, eine Brücke zwischen Griechenland, dem Nahen
Osten und dem Rest Europas zu bauen. Elektronische Sounds und unterschiedliche
musikalische Texturen flirten miteinander und vereinen sich zu einem leicht federnden
Song, bei dem auch druckvolle Bläsersätze um die Ecke lugen. Das vielstimmige
Orchester des Produzenten Shantel versammelt traditionelle Instrumente wie die
Lauten Oud, Tzsouras, Baglama, Cümbüs, Fender Mustang, das Akkordeon,
Klarinetten, die Flöte Ney, diverse Streichinstrumente wie Politiki Lyra und Kemence,
die orientalischen Zithern Santur, Kanun und einen Laptop und einen Linn
Drumcomputer. Süßliche Bouzouki-Klänge werden durch die Fender Mustang EGitarre
ersetzt, die Klangpalette mit einer Vielfalt orientalischer Klänge erweitert. Wir
hören einen Sound, wie er von Athen bis nach Beirut erklingen könnte, ein Orchester,
das sich für den Party-Train der Berlin-Bagdad-Bahn bestens empfehlen könnte.
Die zwei Fragen, die sich Shantel im Zentrum seiner Arbeit an seinem neuen Album
(VÖ: Ende Mai) stellte: Wie fange ich den Sound so genau und akustisch wie möglich
ein? Wie schaffe ich für die Musik, für die ich mich schon als Kind begeistert habe,
eine neue, internationale Form, einen pan-europäischen zeitgenössischen Sound? Die
intensive Rezeption und Verarbeitung von Traditionen, sei es die der Instrumente, der
Form der Songs, der Rhythmen oder Tonleitern, geschieht hier weder anbiedernd
noch miefig, noch museal. Es ist ein geschmeidiges Surfen zwischen den Welten, das
eine ganz neue Power freisetzt. EastWest – Dysi ki Anatoli ist eine erste Antwort.
Und was für eine.